E-Paper
„A Chair And You“

Stühle im Wunderland – Robert Wilson inszeniert im Leipziger Grassi

Robert Wilson in der Ausstellung „A Chair And You“ im Grassimuseum für Angewandte Kunst – im Vordergrund „Black Iron“ (2004) von Humberto und Fernando Campana, rechts „Consumer’s Rest“ von den Stiletto Studios aus dem Jahr 1981.

Robert Wilson in der Ausstellung „A Chair And You“ im Grassimuseum für Angewandte Kunst – im Vordergrund „Black Iron“ (2004) von Humberto und Fernando Campana, rechts „Consumer’s Rest“ von den Stiletto Studios aus dem Jahr 1981.

Leipzig. Er war gerade in Florenz und wird in wenigen Tagen nach London fliegen, wo er am Barbican Theatre mit Isabelle Huppert arbeitet, danach geht es nach Kaunas in Litauen und Rouen in Frankreich. Robert Wilson macht keine Pausen, aber er kann sie setzen: Am Dienstag ist er zur Pressekonferenz im Leipziger Grassimuseum für Angewandte Kunst ein paar Minuten zu spät erschienen, hat einen „Guten Morgen“ gewünscht und gelächelt. Als das Wort an ihn geht, sagt er erst mal einige lange Sekunden nichts. Und erzählt dann, wie er als kleiner Junge zu Hause in Texas gerne die Stühle im ganzen Raum verteilt hat. „Meine Mutter hat sie immer wieder zurückgestellt.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Im Museum bleiben jetzt rund 140 Stuhlobjekte für fünf Monate dort, wo er sie platzieren ließ. „A Chair And You“ heißt die Inszenierung in vier Räumen mit unterschiedlichen Stimmungen. Es ist eine Art Oper in vier Akten – ein Spiel mit Licht und Schatten, Musik und Sounds, Poesie und Humor. Das Gesamtkunstwerk gehört zu den Höhepunkten in diesem Jahr, in dem das Museum für Angewandte Kunst sein 150-jähriges Bestehen feiert.

Stühle aus der Sammlung des Schweizers Thierry Barbier-Mueller

Die Stühle stammen aus der Sammlung des Genfer Unternehmers Thierry Barbier-Mueller (1960–2023), der rund 650 Objekte von den 1960er-Jahren bis heute zusammentrug. Sie kommen von namhaften, aber auch unbekannten Designern, Architekten sowie Künstlerinnen und Künstlern wie Donald Judd, Niki de Saint Phalle, Lawrence Weiner und Franz West. Es sind Objekte, die unsere Begriffe von Stühlen ins Kippeln bringen – mal surreal verspielt, mal statisch streng, immer wieder überraschend.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Als Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke (Linke) zum ersten Mal hörte, dass Robert Wilson im Grassimuseum inszenieren werde, habe sie gedacht, „das gibt’s doch gar nicht“, erzählt die Politikerin, die studierte Theater-Dramaturgin ist. „Er ist für mich eine Ikone, ein Meister der Präzision und Perfektion“, seine Arbeiten seien bezaubernd wie sinnfällig. „Diese Ausstellung ist ein Ereignis. Herzlichen Glückwunsch“, sagt sie zu Museumsdirektor Olaf Thormann, der von der Akribie des 82-Jährigen begeistert ist: „Er hat jedes Detail, jeden Schatten begutachtet.“ Wilson gehe es darum, Räume für Gedanken zu öffnen, als Besucherin und Besucher könne man sich nicht entziehen, sei mittendrin. Darauf beziehe sich das „And You“ im Titel.

Robert Wilson: „Stühle haben Persönlichkeit“

Seit vergangenen Donnerstag ist der US-amerikanische Regisseur, Theaterautor, Maler, Lichtdesigner, Bühnenbildner, Videokünstler und Architekt in Leipzig und arbeitet mit seinem Team. „Stühle sind für mich Skulpturen, sie haben Persönlichkeit“, sagt Wilson. „Ich sehe sie gerne an.“ Es gehe ihm um Linien, Formen und Farben im Raum. „Immer beginne ich mit dem Licht“, erklärt er – und irgendwer dimmt genau in diesem Moment die Leuchten im Raum runter. „Danke Gott“, sagt Wilson lächelnd. Inszeniert er jetzt auch schon die Pressekonferenzen? Zwischendurch zeichnet Wilson eine Raumskizze und hält sie hoch. Erklärt das Wesen von Hell und Dunkel, indem er auf Anzugjacke und Hemd deutet: „Wenn ich Schwarz auf Weiß mache, wird Weiß weißer.“ Oder er begrüßt eine Schulklasse im Hintergrund: „Willkommen, Ihr seid die Zukunft.“

Lesen Sie auch

„A Chair And You“ ist eine magische Gegenwart und -welt, ein Wunderland also. Unter der Decke im Eingangsbereich leuchtet und glitzert eine Art Stuhl von Ingo Maurer, dann ist man schon im „Kaleidoskop“ beziehungsweise davor. Durch ein gutes Dutzend Gucklöcher kann man in einen mit Spiegeln ins scheinbar Unendliche erweiterten Raum sehen, in dem metallisch-futuristische Objekte mit der Umgebung verschmelzen. In der Tat sind es Bilder wie in einem Kaleidoskop. Man kann sie nicht halten, auch auf Fotos scheint alles zu verfließen. Zu hören ist „Metal Machine Music“ von Lou Reed. Informationen über die Objekte gibt es in einem klug gegliederten Begleitheft zur Ausstellung. Es geht auch wunderbar ohne, und das liegt an Robert Wilsons auf Emotionen setzende Inszenierung, für die man nichts wissen muss.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Stühle leuchten auf und tauchen wieder ins Dunkle ab

Es folgt der „Dark Space“, den man durch eine niedrige, beleuchtete Tür betritt – mit Stühlen, die aufleuchten und wieder ins Dunkle abtauchen. Zu Avo Pärts melancholischem „Spiegel im Spiegel“ dreht sich „Consumer’s Rest“ von den Stiletto Studios, ein Einkaufswagen, gesägt und gebogen, der immer wieder andere Schatten wirft. Minimalistisch-geometrisch geht es im „Medium Space“ zu. Mit halb transparenten Wänden, inspiriert von Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon aus dem Jahr 1929.

Wilson setzt auf Gegensätze – und Witz. Im Korridor zum letzten Raum gibt es eine Soundinstallation mit Text und Stimme, in der er dadaistisch-verspielt den Ausstellungstitel in verschiedenen Tonhöhen verballhornt. Und in hohen Tönen bellt. Auch hier sei Wilsons Perfektionismus ins Spiel gekommen. „Er war zunächst unzufrieden, übte so lange, bis das Gebell seinen Ansprüchen genügte“, erzählt Chantal Prod’Hom, Direktorin des mudac Museums für Design in Lausanne, eine der beiden Kuratorinnen.

Ausstellung, Eröffnung, Künstlergespräch

A Chair And You: Bis 6. Oktober im Grassimuseum für Angewandte Kunst (Johannisplatz 5-11, Di, Do-So, Feiertage: 10–18 Uhr, Mi 12–20 Uhr); Eintritt: zehn Euro, Dauerausstellung eintrittsfrei

Ausstellungseröffnung mit Robert Willson: Dienstag (7.5.), 19 Uhr.

Künstlergespräch mit Robert Wilson: Mittwoch (8.5.), 19 Uhr.

Ein Buch zu der in Auszügen gezeigten Sammlung ist im Museumsshop erhältlich:The Spirit of the Chair. The Chair Collection of Thierry Barbier-Mueller, Oktober 2022, Lars Mueller Publishers, 384 Seiten, 927 Abbildungen (engl./ franz.)

„Bright Space“: Gestühl in wilden Formen und knalligen Farben

Ihren Abschluss findet diese wundersame Ausstellung im „Bright Space“, in dem lauter seltsames Gestühl in wilden Formen und knalligen Farben auf spiegeleiförmigen Popart-Inseln gefeiert wird. Dazu dudelt sehr fröhliche Musik von Paul Reeves, die so klingt, wie sie heißt: „Happy Chappie“.

LVZ